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Erkenntnisse der Placebo-Forschung

Wie die Erwartungen von Patientinnen und Patienten den Verlauf von Therapien beeinflussen – und was das für die Behandlung und Beratung bedeutet

Placebo-Effekte sind in der Medizin und Gesundheit ein alltägliches Phänomen – genauso wie ihr negatives Gegenstück, die Nocebo-Effekte. Beide beruhen auf den Erwartungen von Patientinnen und Patienten und tragen in erheblichem Ausmaß zum Erfolg und Misserfolg von Therapien bei. Was dabei passiert, weiß die Wissenschaft heute immer genauer – und ebenso, wie wir die Effekte beeinflussen können.

Noch bevor eine medizinische oder therapeutische Behandlung beginnt, passiert etwas ganz Wesentliches: Die Patientin oder der Patient entwickelt eine Erwartung davon, wie die Behandlung verlaufen wird. Die Person informiert sich vielleicht im Internet, holt Ratschläge bei Freunden ein oder hat von jemand anderem gehört, dass ihm eine bestimmte Therapie geholfen hat – oder auch nicht. Wie verläuft das erste Gespräch mit der Ärztin, wirkt sie zugewandt oder abweisend? Was sagt der Apotheker, welche Nebenwirkungen spricht er an? All diese Dinge wecken Erwartungen – und können den anschließenden Behandlungserfolg entscheidend beeinflussen. Der Grund dafür ist der Placebo-Effekt.

Im engeren Sinn ist ein Placebo eine Substanz ohne Wirkstoff. Placebos werden zum Beispiel in pharmakologischen Studien eingesetzt: Um die Wirksamkeit eines neuen Arzneimittels zu testen, erhalten einige Teilnehmende ein Präparat mit Wirkstoff und die anderen das gleiche Präparat, nur ohne Wirkstoff – ein Placebo also. Wenn in der Gruppe mit Wirkstoff ein größerer Behandlungserfolg zu erkennen ist als in der Placebo-Gruppe, gilt die Wirksamkeit der Substanz als erwiesen.

Placebo-Effekte kennen Behandelnde seit der Antike

Schon seit der Antike ist allerdings bekannt, dass vermeintlich wirkungslose Substanzen oder Behandlungen trotzdem einen heilenden Effekt haben können – einen Placebo-Effekt. „Placebo“ ist lateinisch für „Ich werde gefallen“: Schon die Erwartung, dass eine Behandlung helfen wird, führt dazu, dass sie tatsächlich hilft und Symptome verbessert. Solche positiven, körperlichen und psychischen Veränderungen nach einer Behandlung beobachtet man nicht nur nach der Einnahme einer Tablette ohne Wirkstoff. Auch andere Scheinbehandlungen können zu Placebo-Effekten führen, zum Beispiel eine simulierte Operation oder eine Infusion mit einer einfachen Kochsalzlösung.

„Placebo-Effekte beruhen auf psycho-neurobiologischen Vorgängen im Gehirn“

Vor allem aber wissen Forschende heute durch viele Experimente und Studien, dass der Placebo-Effekt genauso bei nachweislich wirksamen Therapien in der täglichen Praxis eine große Rolle spielt. Eine positive Erwartung kann den Erfolg einer Therapie erheblich verstärken. Das liegt an komplexen, psycho-neurobiologischen Vorgängen im Gehirn: Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen, dass dabei bestimmte Areale im Gehirn – zum Beispiel die schmerzlindernden Systeme – aktiviert werden.

Erwartungen können Schmerzen lindern – aber auch steigern

Tatsächlich ist der Placebo-Effekt gerade in der Schmerztherapie besonders gut erforscht: Die Erwartung einer Patientin, dass die Einnahme eines Mittels oder Medikaments beispielsweise ihre Rückenschmerzen lindern wird, führt im Gehirn zur Ausschüttung schmerzlindernder Substanzen. Diese so genannten körpereigenen Opioide können die Weiterleitung des Schmerzreizes im Rückenmark messbar verändern. Dadurch lassen die Schmerzen nach, obwohl die Patientin gar kein Opioid-Schmerzmittel eingenommen hat. Dieselben Prozesse sorgen auch dafür, dass die schmerzhemmende Wirkung eines tatsächlichen Schmerzstillers verstärkt wird, so dass unter Umständen eine niedrige Dosierung ausreicht.

Doch auch der umgekehrte Fall führt in der Praxis zu erstaunlichen Effekten: Erfährt die Patientin zum Beispiel, dass ihre Freundin das Schmerzmittel schlecht vertragen hat, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Medikament bei ihr ebenfalls Nebenwirkungen hervorruft oder suboptimal wirkt. In solchen Fällen spricht man von einem Nocebo-Effekt (lateinisch für: „Ich werde schaden“). Untersuchungen weisen darauf hin, dass auch durch den Nocebo-Effekt im zentralen Nervensystem Prozesse angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen. So kann etwa die Angst vor Schmerzen im Nervensystem Opioide blockieren und den Botenstoff Dopamin hemmen. Das wiederum verstärkt die Weiterleitung und damit die Wahrnehmung des Schmerzes, anstatt sie herunter zu regulieren.

Nocebo-Effekte machen eine Therapie weniger wirksam

Erkenntnisse der Placebo-Forschung anwenden

Wie Behandelnde Patienten-Erwartungen gezielt steuern und nutzen können

Der Nocebo-Effekt spielt im Alltag wahrscheinlich sogar eine noch größere Rolle als der Placebo-Effekt, ist aber bisher viel weniger gut untersucht. Das hat unter anderem ethische Gründe: Wenn man bei Patienten bewusst eine negative Erwartungshaltung auslöst, stößt man damit oft an die Grenzen der ärztlichen Ethik. Umso wichtiger ist es für alle im therapeutischen Bereich Tätigen, sich diesen Effekt bewusst zu machen: Ein ausgeprägter Nocebo-Effekt kann den Erfolg einer Therapie beschränken oder sogar zunichte machen. Er kann der Wirkung eines eigentlich effektiven Medikaments entgegenwirken, und er kann Nebenwirkungen hervorrufen. Sogar Fehldiagnosen sind seinetwegen möglich: Wenn bei einer eigentlich gesunden Person Krankheitssymptome auftreten, weil diese glaubt, eine Erkrankung zu haben, handelt es sich dabei ebenfalls um einen Noceboeffekt.

„Placebos wirken sogar dann, wenn Personen wissen, dass sie welche bekommen“

 Wie groß die Macht der Erwartung bei einer Behandlung wirkt, variiert stark von Mensch zu Mensch und Situation zu Situation. Manche Patienten zeigen in Studien sogar dann einen messbaren Placebo-Effekt, wenn sie genau wissen, dass sie eine Pille ohne Wirkstoff einnehmen; andere sind kaum empfänglich dafür. Sicher spielen genetische Faktoren eine Rolle, ebenso Persönlichkeitsmerkmale, etwa ob jemand grundsätzlich optimistisch und aufgeschlossen oder eher ängstlich und kritisch ist. Entscheidend sind jedenfalls oft individuelle Erfahrungen mit der Einnahme von Medikamenten oder anderen Therapien in der Vergangenheit. So sprechen beispielsweise viele chronisch Kranke schlecht auf Schmerzmedikamente an: Sie sind oft nach jahrelangen, wenig erfolgreichen Therapien verzweifelt, ängstlich und skeptisch gegenüber weiteren Therapieversuchen. Unter Umständen kann das zu einem starken Nocebo-Effekt führen, welcher die Wirkung neuer, eigentlich effektiver Medikamente mindert oder sogar komplett aufhebt.

Wer Erwartungen richtig steuert, kann Nebenwirkungen vermeiden

Placebo-Effekte sind in weiten Teilen der Therapie, der Pflege und der Gesundheitsberatung ein noch ungenutztes Potenzial. Dabei entschlüsselt die aktuelle Forschung immer genauer, wie Placebo- und Nocebo-Effekte auf psychologischer und neurobiologischer Ebene entstehen und welche Faktoren darauf Einfluss nehmen. Wer diese Faktoren kennt, kann den Erfolg etablierter Therapien gezielt steigern und Nocebo-Effekte vermeiden. Bei Operationen, manuellen Therapien und psychologischen Interventionen vermag der Placebo-Effekt schnellere Heilung zu bringen. Eine positive Erwartungshaltung von Patientinnen und Patienten kann auch helfen, die nötige Dosis eines Arzneimittels zu reduzieren und damit das Risiko von Nebenwirkungen zu minimieren.

Wie bespricht eine Ärztin, der Physiotherapeut, eine Pflegekraft die Behandlung mit dem Patienten? Welche Worte wählt sie oder er, welche Gestik und Mimik? Wie begegnet man Ängsten? Wie überbringt man deprimierende Nachrichten? Wie erklärt man die Informationen, die im Beipackzettel stehen? Wie lässt sich die erste Interaktion mit den Patienten bereits bei der Ankunft in der Praxis oder Klinik positiv gestalten? All diese Elemente der Patientenkommunikation haben nachweislich Auswirkungen darauf, wie gut Medikamente und Behandlungen wirken und wie verträglich sie sind.

Und nicht zuletzt sind diese Erkenntnisse auch für die pharmazeutische Industrie interessant: In klinischen Studien werden neue Medikamente und Behandlungen häufig im Vergleich zu einem Placebo getestet. Eine der Grundannahmen dabei ist, dass sich die Effekte des Placebos und des Medikaments aufaddieren. Neue Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese Annahme in vielen Fällen zu stark vereinfacht ist, weil Placebo- und Nocebo-Effekte die Wirkung der getesteten Medikamente wesentlich verstärken oder abschwächen können.

Kompetente Beratung und Begleitung

Das Kompetenznetzwerk Placebo hat sich das Ziel gesetzt, die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Wirkmechanismen der Placeboantwort in konkrete Konzepte für die klinische Forschung und Praxis zu übersetzen. Die Expertinnen und Experten aus dem Netzwerk unterstützen Sie dabei, bessere Therapien für Ihre Patienten und Fortschritte für Ihre Einrichtung zu erreichen.